Der erste Eindruck der Stadt, das Ziel so vieler Sri Lanka-Reisender ist: Eine Mischung aus Faszination und Ernüchterung. Man hätte es beinahe erwarten können, denn zugegebenermaßen eilt ihr touristischer Ruf ihr schon voraus, auch wenn wir es sind, die eine lange Zugfahrt zu ihr unternommen haben, und nicht andersherum. Faszination deshalb, weil es so absurd erscheint, dass ein kleiner Ort inmitten der urigen Hügellandschaft Sri Lankas einen eher empfängt wie Disneyland als ein verschlafenes, süßes Bergdörfchen. Ernüchternd deshalb, weil man fast schon damit gerechnet hat, wie oben bereits angesprochen, und vielleicht gedacht hat, so schlimm wird es schon nicht sein. Doch tatsächlich ist es so schlimm.
Abgebogen von der Seitenstraße, in der der Bahnhof liegt, in der wir ankommen, in die Hauptstraße, fantasievoll Ella Road benannt, hat man eher den Eindruck, in der Khao San Road in Bangkok oder der Schinkenstraße in Palma de Mallorca gelandet zu sein. Links und rechts mehrstöckige Restaurants mit Neonreklamen, Bars und Convenience Stores, teilweise soll laute Popmusik Gäste in die Läden locken. Dazwischen rauschen Tuk Tuks, vollbesetzte Ausflugsbusse und Allradfahrzeuge die enge Bergstraße entlang, sodass sich die Passanten auf den engen Bordsteinen vorsehen müssen, nicht vom Fahrtwind direkt ins unverhoffte Jenseits gezogen zu werden. Man sieht kaum Einheimische, es sei denn, sie arbeiten hier. Es ist ein Klischee des Massentourismus in Südostasien, dass ich so eher aus Thailand oder Bali kenne, und hier in der Intensität zum ersten Mal erblicken darf.
Da unser Guesthouse zum Glück ein paar Gehminuten abseits der Hauptstraße liegt, können wir uns eine wohlverdiente Verschnaufpause gönnen, bevor wir einen zweiten Anlauf zur Erkundung dieses Hexenkessels machen. Abends leuchten die Werbetafeln noch mal eine Spur greller, und die Ausflügler sind größtenteils in die Basis zurückgekehrt, sodass noch mal eine ganze Menge mehr los ist als am Nachmittag. Wir lassen unsin einem der größten Lokale typisch singhalesische Cheeseburger und Cocktails schmecken. Es ist auch hier kein einziger Einheimischer zu sehen, die Preise sind eher europäisch als südostasiatisch.
Sind wir hier in der Touri-Hölle gelandet, dem Gipfel der Kommerzialisierung? Man möchte es glauben. Und doch fragt man sich, warum gerade so viele Menschen aus nah und fern hierher anreisen, hat uns doch allein die (zugegebenermaßen überaus szenische) Zugfahrt hierher fast einen Tag gekostet. Für diese Stimmung kann man leichter nach Pattaya oder Denpasar fahren, und hat es dort vielleicht noch einmal eine Spur heftiger. Doch natürlich ist diese Entrüstung absolut lächerlich, sind wir erstens doch Teil dieses Phänomens, und zweitens erliegen wir dem klassischen Henne-Ei-Problem auf. Dieses Eldorado der Hipster-Cafés und Massagesalons ist nicht der Grund, warum so viele Menschen sich quer durch den sri-lankischen Regenwald begeben. Nein, genau diese vielen Menschen haben dafür gesorgt, dass sich die Einwohner dieses vormals wohl sehr beschaulichen Bergörtchens, und mittlerweile wohl vor allem geschäftstüchtige Investoren dazu berufen sahen, ihre Häuser mit großen Neonreklamen zu behängen und immer mehr Schlafplätze in immer größer werdenden Hotels anzubieten, um die wachsenden Massen zu beherbergen.
Doch was hat die Menschen dazu bewogen, sich nach Ella zu begeben? Auf die Suche danach mache ich mich früh am nächsten Morgen, und zwar in östlicher Richtung die Hauptstraße entlang. Schnell laufe ich auf Bahngleisen und muss auch mal einem Zug, der keinen Meter entfernt an mir vorbei schießt, ausweichen. Begeistert blickende Touristengesichter hängen gebannt aus einem offenen Waggon und knipsen, was das Zeug hält. Wie ich selbst schon am Vortag als Passagier eines solchen Zuges beobachtet habe, hängen auch hier selfiehungrige Touristen wagemutig aus den Waggons, und ich muss mich vorsehen, keinen Hintern abzubekommen, der auf Kopfhöhe an mir vorüberzischt. Gleichzeitig erkenne ich schon, weshalb sie hier ihre Fotos machen wollen, denn schon kurz hinter dem Ortsausgang tun sich tiefgrüne Ausblicke auf die bewaldeten Berghänge auf, die ich schon am Vortag aus dem Zugfenster bewundern konnte.
Anders als da werde ich heute aber mitten in diese Welt eintauchen, statt sie nur im Vorbeifahren als Postkartenmotiv zu genießen. Schon von Weitem erblicke ich mein erstes Zwischenziel, den Wasserfall Ravana, der sich weithin sichtbar als schneeweißes Band seinen Weg durch das dichte Urwaldgestrüpp bahnt. Auch wenn er jahreszeitbedingt wahrscheinlich etwas weniger Wasser trägt als sonst, bildet er einen imposanten Anblick inmitten des dichten Dschungels. Rasch umrunde ich, immer noch der Bahnstrecke bis zum Örtchen Kithalella folgend, das Tal und befinde mich bald am oberen Ende des Ravana Falls, wo der Fluss in die Tiefe rauscht. Allzu nah traue ich mich dann doch nicht heran, da das Gelände nah zu den Fällen schnell unwegsam wird und viele Schilder Unvorsichtige vor schweren Unfällen warnen. Außerdem will ich sowieso weiter, denn nun geht es erst steil, dann etwas flacher bergan, und ich kann die nicht enden wollende Aussicht auf das Tal südlich von Ella abermals bewundern, dieses mal von westlicher Seite aus. Auf der Bahnstrecke, die ich eben noch entlang gewandert bin, fährt wieder ein Zug entlang und wirkt im gewaltigen Urwaldpanorama klein wie eine Modelleisenbahn, die friedlich durch die Natur dahintuckert, und nicht mehr so mächtig wie eben noch aus nächster Nähe. Über den Berg verteilt stehen inmitten der tiefgrünen Hänge Hütten und Häuser und sehen ebenfalls eher wie Spielzeuge aus. Aus dem Ort Ella, den man von hier ebenfalls gut im Blick hat, dringen leise Geräusche herauf, als dort das morgendliche Treiben der Ausflügler und Hoteliers seinen Lauf nimmt. Ich muss diesen Anblick einfach eine Weile genießen, eine Szene so schön und friedlich, dass sie beinahe gestellt wirkt, wie eine Theaterkulisse, doch gleichzeitig so unübersehbar mächtig, dass man in ihren Bann gezogen wird.
Irgendwann reiße ich mich doch los und gehe weiter bergauf. Das Wetter wird nicht kühler, und ich habe noch den einen oder anderen Höhenmeter zu bewältigen. Ich begegne hier wie auf dem größten Teil meines bisherigen Weges kaum anderen Menschen. Weiter oben komme ich durch Teeplantagen, die würzig und angenehm duften, habe hier aber Mühe, in dem Gewirr von kleinen Pfaden meinem Weg zu folgen. Bald wird das einfacher, denn der Weg verbreitert sich zu einem deutlich ausgetretenen Pfad, auf dem dann auch viele andere Wanderer unterwegs sind. Nun geht es noch mal deutlich steiler voran, und ich komme ordentlich ins Schwitzen, denn inzwischen ist der Vormittag fortgeschritten und die tropische Sonne gibt bereits ihr Bestes, den Tag anzuheizen. Zum Glück läuft man hier jedoch in einem schattigen Wald, sodass es insgesamt doch ganz gut erträglich ist, zumindest für hiesige Verhältnisse.
Schließlich komme ich verschwitzt und keuchend auf einem großen, baumbewachsenen Plateau an, das wohl das Tor zu meinem heutigen Tagesziel sein muss. Ich muss zunächst, für mich Naivling hier oben völlig unerwartet, ein paar Rupien Eintritt entrichten, dann darf ich vorbei und ihn bewundern: Den Ella Rock, großer felsiger Aussichtspunkt hoch über den Wipfeln des Hochlandwaldes von Zentral-Sri Lanka, und eines der beliebtesten Ausflugsziele hier. Das stelle ich auch spätestens am Ziel fest, denn außer mir haben noch einige andere den mühsamen Weg hier hoch auf sich genommen. Der eigentliche Aussichtspunkt ist nur ein relativ kleiner Felsen, der wie der Königsfelsen beim “König der Löwen” in die Landschaft hinein ragt. Er ist nicht übermäßig groß, und deshalb mit ein paar Selfiehungrigen und Rastenden schon ausgelastet, sodass ich mich etwas abseits der hinsetze, um von hier den Blick zu genießen. Um mich herum, im 270-Grad-Winkel, erheben sich bewaldete Hügel in der Sommerluft, spitze Gipfel hintereinander aufgereiht, so weit das Auge reicht, wie Wellen in verschiedensten Grüntönen, und verschwinden in der dunstigen Luft. Zu meinen Füßen geht es sehr steil in die Tiefe, sodass spektakuläre Fotos mit der weit unter einem liegenden Landschaft möglich sind, während man selbst auf dem Felsen posiert.
Die Sonne brennt nun intensiv herunter, und ich bin froh, den Aufstieg hinter mir zu haben. Hier oben wird mir wieder bewusst, wonach ich hier eigentlich gesucht habe. Abseits von dem Wahnsinn in Ella Town liegen hier Juwelen wie dieses herum, die zu suchen die Menschen hierher strömen. Dieser Anblick ist so schön, dass man sich ihn verdienen muss, und trotz der Mühen kommen die Leute reihenweise, um ihn zu genießen, das muss schon etwas heißen. Ob die Motivation nun tatsächliche Bewunderung oder der Wunsch nach Selbstinszenierung ist, in beiden Fällen erkennt man die Schönheit dieses Ortes ja an. Und wem soll ich, der ja von genau so weit herkommt wie die meisten anderen hier, einen Vorwurf machen. Und trotzdem hat man irgendwie ein Störgefühl dabei, wenn man hier, in der freien Natur, den Leuten schon fast ausweichen muss. Der Weg nach oben war eher einsam, traf ich doch deutlich weniger Touristen. Hier muss ich mich schon halb verrenken, um ein Bild ohne Köpfe im Vordergrund machen zu können. Die Instagram-Fotos, die eine Person allein mit ausgestreckten Armen vor der imposanten Kulisse zeigen, spiegeln die Wirklichkeit nicht wider. Ist es vielleicht auch die Idee des Alleinseins an sich, die Teil dessen ist, was man hier sucht? Dann wäre das Ganze ja von vornherein zum Scheitern verurteilt.
Und so bleibt einem nichts, als den Moment hier zu genießen, und sich die Sonne ins Gesicht scheinen zu lassen. Genau das tue ich eine lange Weile, bevor ich mich auf den Rückweg in Richtung Ella Town mache. Zwischen den Teefeldern kommen mir noch mehr Leute entgegen, weshalb ich dann doch ganz froh bin, rechtzeitig aufgebrochen zu sein. Dieses Mal folge ich der Route vom Berg direkt zur Stadt hinunter, dieses Mal der Straße folgend statt den Bahnschienen, zurück in den Ameisenhaufen, nach dem ich hier nicht gesucht habe.